Deutsche Redaktion

"EU-Wahlen als Referendum über die Zukunft der Union?"

29.04.2024 14:08
Werden die Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni werden in Polen einem doppelten Referendum gleichkommen – einem über die Zukunft der Europäischen Union und einem über die Zukunft Polens? Warum nehmen die Parteien diese Wahlen, die nicht über die Machtverhältnisse im Land entscheiden, so ernst? Und: Spielt Premierminister Tusk auf eine Schwächung seiner Koalitionspartner? Die Einzelheiten in der Presseschau.
UE przygotowuje się na rosyjską dezinformację przed wyborami do Parlamentu Europejskiego
UE przygotowuje się na rosyjską dezinformację przed wyborami do Parlamentu EuropejskiegoFabrizio Maffei/shutterstock

Rzeczpospolita: EU-Wahlen als Referendum über die Zukunft der Union?

Donald Tusk und Jarosław Kaczyński sind sich einig: Die Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni werden in Polen einem doppelten Referendum gleichkommen – einem über die Zukunft der Europäischen Union und einem über die Zukunft Polens. Paradoxerweise hätten beide recht, schreibt dazu in der Rzeczpospolita Michał Szułdrzyński.

Im Wahlkampf, so der Autor, komme es zu einem interessanten Rollentausch: Tusks Bürgerplattform (PO) habe die Kriegsrhetorik der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Kaczyński übernommen und nutze diese, um ihre Wähler zu mobilisieren. Die PiS hingegen rufe im Namen der Verteidigung der Souveränität zur Wahl und zeichne eine klare Trennlinie innerhalb der EU, wo sie Brüssel und die Bürgerplattform als Bedrohung für die polnische Souveränität darstelle. Hauptfeinde seien der Green Deal, der Zustrom von Waren aus der Ukraine und die Zentralisierung der Gemeinschaft.

Szułdrzyński betrachtet diese Strategie aus zwei Gründen als riskant: Zum einen habe die Vereinigte Rechte die Parlamentswahlen im letzten Jahr aufgrund einer ähnlich negativen Kampagne verloren. Zum anderen sei es riskant, sich mit den rechtsextremen Strömungen aus anderen Staaten zu verbünden, die ebenfalls eine tiefer gehende europäische Integration ablehnen – dazu würden Ungarns kremlfreundlicher Viktor Orbán und andere europäische sowie einige amerikanische Partner der PiS zählen. Trotz dieser Risiken versuche die Partei von Kaczyński, ein überzeugendes Narrativ über die Verteidigung der polnischen Staatlichkeit zu konstruieren.

Tusks Partei müsse daher ihre Strategie neu ausrichten und auf mehreren Ebenen präsentieren. Sie müsse auf europäischer Ebene – wie ihre Gegner – darstellen, dass es sich tatsächlich um ein Referendum über die Zukunft der Union handelt. Dabei stehe die Frage im Raum, ob die integrationsfreundliche Europäische Volkspartei (EVP) an der Macht bleibe. Nach den Wahlen könnte die Bürgerplattform dominieren und sogar die deutschen Christdemokraten überholen. Ein PO-Politiker meint, das Ziel sei, in Polen gegen Recht und Gerechtigkeit und auf europäischer Ebene gegen Deutschland zu gewinnen.

Sollte die polnische Delegation in der EVP nach der Wahl größer sein als die deutsche, könnte Polen über die wichtigsten Posten der Europäischen Kommission entscheiden. Angesichts der persönlichen Beliebtheit von Tusk in Europa und der relativen Schwäche europäischer Politiker wie Olaf Scholz oder Emmanuel Macron, sei dieses Szenario nicht auszuschließen.

Donald Tusk benötige einen weiteren Sieg über die Recht und Gerechtigkeit, um zu beweisen, dass seine Vision von der Zukunft Polens und der EU auch sechs Monate nach den gewonnenen Parlamentswahlen noch die größte Anhängerschaft in Polen genießt. Trotz Kritik – drei amtierende Minister und zwei Leiter seiner Untersuchungskommissionen wollen nach Brüssel, als wäre die Aufarbeitung der Ära PiS bereits abgeschlossen. Tusk scheine bereit, diese Kritik in Kauf zu nehmen, angesichts des potenziellen Triumphs, den seine Partei bei einem Sieg feiern könnte, so Michał Szułdrzyński in der Rzeczpospolita. 

Rzeczpospolita: Parteien setzen auf Brüssel

Am vergangenen Wochenende hat die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) den Wahlkampf für das Europäische Parlament offiziell eingeläutet, berichtet Michał Kolanko ebenfalls im liberal-konservativen Tagesblatt Rzeczpospolita. Als größte Oppositionspartei legte die PiS die Hauptthemen ihrer Kampagne fest: Kampf gegen den Green Deal, gegen Vertragsänderungen, den Migrationspakt und die Einführung des Euro in Polen. Ziel sei es, im Juni einen weiteren Wahlsieg zu erringen und sich von der Niederlage des letzten Jahres zu erholen.

Im Gegensatz zu den Kommunalwahlen, so Kolanko, entscheiden die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament nicht über die Machtverhältnisse in Polen, noch haben sie einen großen Einfluss auf die Strukturen der politischen Parteien. Warum also nehmen die Parteien diese Wahlen so ernst? Laut Kolanko liegt die Antwort im Wahlkalender. Nach dem 9. Juni stehen die nächsten Präsidentschaftswahlen erst im späten Frühjahr 2025 an. Die Parlamentswahlen würden daher das politische Kräftegleichgewicht für die zweite Jahreshälfte bestimmen und seien das letzte große politische Ereignis vor den Sommerferien.

Die Bürgerplattform (PO) hat daher entschieden, ihre Kandidatenlisten für das EU-Parlament mit bekannten Namen zu stärken. Für die PO sind die Europawahlen ein ernstzunehmender Wettbewerb, insbesondere nach dem Ergebnis der Kommunalwahlen, bei denen Tusks Partei zwar wichtige Städte gewonnen, aber landesweit hinter der PiS zurückgeblieben ist, die viele ihrer Schlüsselwahlkreise verteidigte. Auch die Linke hat am Wochenende ihren Wahlkampf für das Europaparlament gestartet. Für sie haben die Europawahlen nach dem schwachen Abschneiden bei den Kommunalwahlen ebenfalls eine große Bedeutung.

DoRzeczy: Wähler wie Idioten behandeln

Die EU-Parlamentswahlen werden erneut ein Kräftemessen zweier politischer Schwergewichte sein, die durch die Polarisierung der Gesellschaft gekennzeichnet sind, sagt der Soziologe und Wahlexperte Marcin Palade im Interview mit DoRzeczy.

Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) tritt an, um ihre Spitzenposition von den Europawahlen 2019 zu verteidigen. Die Bürgerplattform (PO) strebt danach, die Siegesserie ihres politischen Gegners zu durchbrechen, was bei den Kommunalwahlen im April nicht gelungen ist. Die Europawahlen im Juni bieten die nächste Gelegenheit dafür. Deshalb setzen beide Parteien große Namen auf ihren Listen ein, um die Wähler zu mobilisieren und den Parteiapparat zu aktivieren, erklärt Palade.

Er erwartet jedoch nicht, dass die Wahlbeteiligung höher sein wird als bei den Kommunalwahlen. Der Grund? Laut ihm behandeln beide Parteien ihre Wähler bei der Zusammenstellung ihrer Listen wie Idioten. Einerseits schicke Tusk Minister nach Brüssel, bevor diese ihre Kabinette überhaupt richtig bezogen hätten. Andererseits jongliere die PiS chaotisch mit Kandidaten aus verschiedenen Wahlbezirken. Palade bezweifelt, dass diese Strategien die Wähler wirklich mobilisieren werden.

Vieles hänge von der Wahlbeteiligung ab, meint Palade. Je niedriger diese ausfalle, desto größer sei der Anteil der Kernwählerschaft beider Parteien, was das Ergebnis von PiS und PO beeinflussen würde. Kleinere Parteien wie der Dritte Weg hätten es schwerer. Auch die Linke stehe vor einer Herausforderung; sollte sie ihr schlechtes Ergebnis von den Kommunalwahlen wiederholen oder unter der Wahlhürde bleiben, müsste man über die Daseinsberechtigung dieser Partei nachdenken. Nach Meinung des Experten wartet Donald Tusk genau auf ein solches Ergebnis. Er plane, die Mehrheit der Wähler der Linken sowie jene Politiker zu übernehmen, die ihm beim Aufbau einer sehr breiten linken Mitte nützlich erscheinen könnten. Eine Schwächung des Dritten Weges sei ebenfalls Teil von Tusks Plan. Diese Strategie könnte ihm auch nützlich sein, sollte er sich entscheiden, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren, so Palade in seinem Gespräch mit DoRzeczy.

Autor: Piotr Siemiński